„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“

Nach dem Besuch des Geländes der geplanten Gedenkstätte Trostenez und Blagowschtschina fand am Nachmittag ein Podium statt zum Thema „Wege der Verständigung zwischen Menschen in Deutschland und Belarus – Voten aus christlichen Kirchen und jüdischen Gemeinden.“ Dazu mein Beitrag:

Sehr geehrter Herr Erzpriester Fjodor Powny,

Verehrte Damen und Herren,

noch stehe ich unter dem Eindruck des gestrigen Besuches in der Nationalen Gedenkstätte Cathyn. Die Erinnerungen an das Grauen in den Konzentrationslagern – an die zerstörten Dörfer – die Scheune, in der die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner von Cathyn lebendig verbrannt wurden – der regelmäßige Glockenschlag aus den angedeuteten Grundrissen der zerstörten Häuser die mahnen, nicht zu vergessen.

Diese Eindrücke vermischen sich mit den bewegenden Bildern von den Gedenk- und Erinnerungsfeiern der vergangenen Wochen zum 70. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager Auschwitz – Buchenwald – Bergen-Belsen – Sachsenhausen – Dachau und all der anderen Stätten des Grauens und der Befreiung vom Faschismus.

Erschreckend und kaum mit Worten zu fassen ist die Bilanz des deutschen Vernichtungsfeldzuges im Osten, der deutschen Besatzungszeit und des Holocausts. Ich habe es hier für Belarus in der Denkschrift 20 Jahre IBB Minsk noch mal nachgelesen: „Jeder vierte Belarusse hat den Krieg nicht überlebt, mehr als eine halbe Million belarussische und europäische Juden wurden in Ghettos getrieben und an verschiedenen Orten vernichtet. … 628 Dörfer wurden bis auf wenige Überlebende einfach ausgelöscht. Von den 400.000 nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen kehrte ein Drittel nicht mehr in die Heimat zurück.“

Im vergangenen Jahr am Pfingstsonntag waren einigen von Ihnen mit dabei als hier in Trostenez und Blagowschtschina im Rahmen einer Gedenkfeier der Grundstein für eine Gedenkstätte gelegt wurde – heute Vormittag haben wir diesen Ort besuchen können. Auch in diesem Jahr gedenken wir der schätzungsweise über 200.000 Menschen jüdischer Abstammung, Kriegsgefangene und Partisanen, die an diesen Orten während der nationalsozialistischen Besatzungszeit ermordet wurden. Für mich ein sehr bewegender Moment als ich im vergangenen Jahr im Rahmen dieser Gedenkfeier eine Liste mit 1.007 namentlich bekannten Menschen jüdischer Abstammung die in den Jahren 1941 und 1942 von Frankfurt nach Minsk deportiert wurden, übergeben konnte. Im Minsker Ghetto und dem Vernichtungslager Trostenez / Blagowschtschina sind über 22.000 Jüdinnen und Juden ermordet worden, die aus Deutschland, Österreich und Tschechien kamen.

Ich spreche hier und heute zu Ihnen als Vertreter einer evangelischen Kirche in Deutschland. Für Christinnen und Christen ist das Motiv der Erinnerung eines der zentralen theologischen Motive: wir sind der Überzeugung, dass nur aus der Erinnerung eine Versöhnung wachsen kann. Versöhnung beginnt mit Erinnerung; aus der Erinnerung kann das Bekenntnis von Schuld erwachsen – Grundlage für die Übernahme von Verantwortung. Johannes Rau hat das mit folgenden Worten einmal prägnant zusammengefasst: „Um eine gute Zukunft zu schaffen, bedarf es des Erinnerns an die Vergangenheit.“ Ein altes Wort aus der jüdischen Tradition formuliert das so: „Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“

So ist Erinnerung zuallererst Offenbarung der vergangenen Taten und damit zugleich Selbsterkenntnis, also Einsicht in den, der so und nicht anders gehandelt hat. Diese Erinnerung verlangt vom Menschen eine Stellungnahme, in der er sich als Urheber der Tat bekennt, sich von sich selbst distanziert und die Verantwortung für das Vergangene und seine geschichtswirksamen Folgen übernimmt. Erinnerung, Anerkennung von Geschehenem als unwiderruflich geschehen und Abkehr von der angerichteten Zerstörung und von sich selbst, der solches tun konnte, helfen dem Menschen, zu einer je größeren Freiheit gegenüber dem Widerfahrnis der Geschichte zu gelangen und dadurch „zum Subjekt seiner eigenen Geschichte im Angesichte seines Gottes“ zu werden.

Diese Einsicht führte in den evangelischen Kirchen unmittelbar noch im Oktober 1945 zur Formulierung des sogenannten „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ mit dem die neugebildete Evangelische Kirche in Deutschland sich erstmals zu einer Mitschuld evangelischer Christen an den Verbrechen des Nationalsozialismus bekannte. Einer der drei Autoren war Martin Niemöller, der erste Kirchenpräsident meiner Kirche, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Martin Niemöller stand zunächst dem Nationalsozialismus positiv gegenüber, entwickelte sich aber während des Kirchenkampfes und seit 1937 als Häftling im Konzentrationslager Sachenhausen mehr und mehr zum Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und war Hitlers „persönlicher Gefangener“. Nach 1945 engagierte er sich für eine Neuordnung der Evangelischen Kirche und trat an die Seite der Friedensbewegung.

Die zentralen Sätze im Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945 lauten:

„Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Niemöller hat diese Schuld für sich sehr persönlich zum Ausdruck gebracht als er sagte: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Die Veröffentlichung des Textes löste damals heftige Kontroversen in der Evangelischen Kirche in Deutschland und in der deutschen Bevölkerung aus, bildete langfristig aber den Ausgangspunkt für eine Neubesinnung des deutschen Protestantismus.

Martin Niemöller und andere kirchliche Repräsentanten – darunter auch Ernst Wilm, 1948 bis 1969 Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, einer Kirche die auch heute mit einer Delegation hier vertreten ist – haben sehr früh den Kontakt nach Osteuropa gesucht, die Menschen in Polen und in der Sowjetunion besucht und Zeichen der Versöhnung gesetzt. Sie haben Brandts Ostpolitik vorbereitet und vor 50 Jahren mit der sogenannten Ostdenkschrift der EKD 1965 ein weiteres Zeichen der Versöhnung gesetzt.

Daraus sind Beziehungen erwachsen in denen es uns bis heute wichtig ist, dass es partnerschaftliche Beziehungen sind, auf Augenhöhe und von gegenseitigem Respekt getragen. Daran wollen wir als Evangelische Kirche festhalten und dies kann ich auch im Namen aller hier vertretenen Evangelischen Kirchen aus Deutschland sagen.

Jedes Jahr im November feiern wir in unseren Kirchen die Friedensdekade. Damit erinnern wir daran, dass Gottes Willen für diese Welt der Frieden ist und dass Gewalt und Kriege überwunden werden können; dazu gehört Erinnerung aus der Versöhnung wachsen kann. Als ein Zeichen dafür wandern in jedem Jahr zwischen dem 1. September – dem Gedenktag des Beginns des Zweiten Weltkrieges – und dem Buß- und Bettag – dem Ende der Friedensdekade – in meiner Kirche fünf Kerzen von Gemeinde zu Gemeinde. Die Kerzen laden ein zum Innehalten, zum Gebet, zur Information und zur Erinnerung an Menschen, die Opfer von Gewalt, Krieg oder Terror wurden und bis heute werden.

Am Ende wandern die Friedenskerzen als Geschenk in die weite Welt – heute nach Minsk hier in die Gedächtniskirche aller Heiligen. Wenn ich nun diese Kerze anzünde, geschieht dies im Gedenken und in Erinnerung an die Menschen jüdischer Abstammung, an die Kriegsgefangenen und Partisanen, die an diesen Orten während der nationalsozialistischen Besatzungszeit ermordet wurden. Ich entzünde sie auch an in der Hoffnung, dass sich solche Gräuel nicht wiederholen. Dafür treten Christinnen und Christen in unseren Kirchen ein.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit

Eine Antwort auf „„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung““

  1. Vielen Dank für diese guten Gedanken. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung: dieser Satz sollte uns begleiten nicht nur in diesem, sondern auch in den kommenden Jahren. Gerade jetzt ist das Gedenken so wichtig, weil das Vergessen mit dem Sterben der letzten Zeitzeugen so willkommen ist.
    Gedenke, erinnere dich, eine Wendung, die im Alten Testament oft vorkommt und an Jahwes Taten und an Israels Untreue und Treue erinnert.
    Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. (Ps. 25)

Schreibe einen Kommentar zu Helmut Sch ubert Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert