23. Oktober – 80 Jahre Liquidierung des Minsker Ghettos

Heute vor 80 Jahren wurden die letzten Jüdinnen und Juden im Minsker Ghetto ermordet und das Ghetto endgültig liquidiert. Mehr als 100.000 Jüdinnen und Juden aus Minsk, Belarus und verschiedenen Städten und Regionen Westeuropas wurden hier interniert und schließlich ermordet. Nur wenige überlebten. Das Grauen des Nationalsozialismus ist unvorstellbar. “Nie wieder” bleibt eine Herausforderung auch angesichts des Terrors der Hamas und der gegenwärtigen Entwicklungen im Heiligen Land.

Gedenke!

Aus Anlass des Jahrestages war ich eingeladen mit einer kleinen Delegation des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerkes (IBB) Dortmund und der Internationalen Bildungs- und Begegnungsstätte “Johannes Rau” Minsk – gemeinsam mit dem ehemaligen deutschen Botschafter in Minsk Peter Dettmar, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Brandenburg Matthias Platzeck und meinem Kollegen aus der Evangelischen Kirche von Westfalen Albrecht Philipps – an den heutigen Gedenkfeiern in Minsk teilzunehmen.

Sie fanden am Denkmal einer ehemaligen Erschießungsstätte auf dem Gelände des Minsker Ghettos, der „Jama“ (Grube) statt. Dort sind am 2. März 1942 etwa 5.000 Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto erschossen worden, darunter viele Kinder.

Im Jahr 2000 wurde diese Gedenkstätte um eine Skulptur der Künstler Leonid Lewin und Else Pollack erweitert. Die Skulptur zeigt 27 Ghettobewohnerinnen und Ghettobewohner, wie sie vor ihrer Erschießung in die Grube steigen.

Im Rahmen der Gedenkfeier konnte ich für die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau (EKHN) einen Kranz zum Gedenken an die Opfer des Holocaust niederlegen.

Einige Straßen weiter liegt das Gelände des jüdischen Friedhofs. Dort stehen mehrere Gedenksteine in Erinnerung an Jüdinnen und Juden, die nach Minsk deportiert und in der Nähe der Stadt im Lager Malyj Trostenez und Blagowschtschina ermordet wurden. Einer der Gedenksteine ist von der EKHN und der Stadt Frankfurt aufgestellt worden. Er erinnert an die mehr als 1.000 Jüdinnen und Juden die im November 1941 von Frankfurt mit dem Zug nach Minsk deportiert und in Blagowschtschina ermordet wurden.

Bereits gestern konnten wir die Gedenkstätte Malyj Trostenez und Blagowschtschina besuchen, die 2018 unter Anwesenheit von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eingeweiht wurde und an der auch Kirchenpräsident Volker Jung im Rahmen der Delegation des Bundespräsidenten teilnahm.

Meine Worte des Gedenkens und des Gebets in Erinnerung an die im Wald von Blagowschtschina ermordeten Jüdinnen und Juden:

Wir sind gemeinsam nach Minsk gekommen, um am 80. Jahrestag der Liquidierung des Minsker Ghettos am 23. Oktober 1943 zu gedenken und der grausamen Ermordung von Jüdinnen und Juden durch Nazi-Deutschland.

Im Zuge der Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden wird Minsk im Herbst 1941 zu einem der wichtigsten Zielorte für die Deportationen aus Westeuropa. Mit dem ersten Transport kommen im November 1941 die ersten ca. 1.000 Hamburger Jüdinnen und Juden. Wenige Tage später über 1.000 aus Frankfurt, der Region, aus der ich selbst komme.

Dieser Ort – damals eine Waldlichtung – Blagowschtschina wurde als Exekutionsstätte für die Ermordung ausgewählt. In 34 Gruben liegen hier die Überreste von den meisten der über 22.000 deportierten Jüdinnen und Juden aus West- und Mitteleuropa, sowie von unzähligen Opfern aus Belarus.

Dass dies heute eine Gedenkstätte ist, das war uns allen ein großes Anliegen, für das wir uns an unseren jeweiligen Orten und in unseren unterschiedlichen Verantwortlichkeiten eingesetzt haben.

Als ich im Mai 2015 zum ersten Mal hier war, haben mich die gelben Namensschilder an den Bäumen tief bewegt. Einzelnen dieser unbegreiflichen Zahl von Ermordeten einen Namen geben; stellvertretend für die vielen Opfer einzelne Schicksale zu erzählen.

Darunter Pauline und Rudolf Weiss aus Melk – zwangsübergesiedelt nach Wien – deportiert am 27. Mai 1942 – hier ermordet am 1. Juni 1942;

Recha und Siegfried Kaufmann von Berlin nach Theresienstadt deportiert am 30. Juni – hier ermordet am 10. Juli 1942;

Günther Katzenstein mit seiner Verlobten Rosa Thielen und seinen Eltern aus Düsseldorf – am 10. November 1941 wird er von der Viehhalle des Derendorfer Schlachthofes nach Minsk deportiert. Der damals 21-Jährige überlebt als einziger von ihnen – als einer von fünfen aus dem gesamten Zug mit 992 Menschen.

Ich selbst bin aufgewachsen in der Kleinstadt Nidda, zwischen Wetterau und Vogelsberg, etwa 50 km nördlich von Frankfurt. Aus Nidda mussten die Schwestern Ilse, Lisa und Lilly Stein (geboren 1922, 1924, 1934 in Nidda) zusammen mit ihrer Familie nach dem Novemberpogrom von 1938 nach Frankfurt am Main fliehen. 1941 wurden sie vom NS-Regime in das Ghetto Minsk deportiert. Mit Hilfe eines deutschen Offiziers konnten die Schwestern später zu Partisanen fliehen. Ihre Eltern wurden ermordet.

Einige wenige Namen, neben den zahllosen ungenannten und unbekannten. Halten Sie inne mit mir, im Namen aller, die hier, und anderswo auf Grund ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer Veranlagung oder wegen ihrer Gesinnung in den Tod getrieben worden sind.

Gott, wir denken vor dir
an die über sechs Millionen Jüdinnen und Juden aus ganz Europa,
die in der Shoah deportiert und ermordet wurden.
All ihre Namen.
All ihre Geschichten.
Du kennst sie, Gott.

Gott, wir denken vor dir besonders
an die über 1,5 Millionen Kinder,
die in der Shoah ermordet wurden.
Ihr Lachen – für immer verklungen.
Ihre Träume – für immer ausgelöscht.
Wir wissen: Du liebst besonders die Kinder, Gott.

Gott, wir bringen auch uns selbst vor dich.
Uns, die wir durch unsere Familiengeschichten
auf so unterschiedliche Weise hinein verwoben sind
in Nationalsozialismus und Shoah.
Gott, stärke uns im Erinnern.
Im Aushalten der Geschichten.
Stärke uns darin,
zu lernen und neu auf Jüdinnen und Juden zuzugehen.

Gott, antijudaistische und antisemitische Vorurteile –
sie sind noch da. In diesen Tagen des Krieges und der Gewalt im Heiligen Land brechen sie noch stärker auf.
Wir denken vor dir an Juden und Jüdinnen,
die heute bedroht und angegriffen werden.
Wir denken vor dir an andere Opfer rechtsradikaler Gewalt.
Gott, wir legen dir die Opfer ans Herz.

Gott, wir bitten dich:
Stärke uns darin, den Mund aufzumachen
gegen Antisemitismus und Gewalt.
Gib uns die Kraft, für eine tolerante Gesellschaft einzutreten.

Amen!

 

 

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