Menschenrechte und Glaubensfreiheit – Human Rights and Freedom of Belief

Die hessen-nassauischen Kirchensynode hat heute die Frühjahrstagung mit dem inhaltlichen Schwerpunkt zum Thema „Menschenrechte und Glaubensfreiheit“ fortgesetzt. Dazu gaben der syrische Rechtswissenschaftler Tarek Bashour und Pfr. Andreas Goetze einführende Referate. Es wurde es ist deutlich geworden, dass die Situationen in den Menschen auf Grund ihres Glaubens bedrängt oder verfolgt werden, sehr differenziert zu betrachten sind  und da wo Christen betroffen sind oftmals auch Angehörige anderer Religionen bedrängt oder verfolgt werden.

Zu den Referaten von Tarek Bashour und Andreas Goetze 

Beitrag zur Glaubensfreiheit in Syrien von Tarek Bashour

Beitrag zu Menschenrechte und Glaubensfreiheit von Andreas Goetze


Stehender Applaus nach dem Vortrag von Tarek Bashour (links am Redepult)

Tarek Bashour, Beitrag zur Glaubensfreiheit in Syrien

Syrien!

Frieden kannte das Land kaum. Von dem osmanischen Reich und der Rückständigkeit, die die Osmanen mit in unser Land gebracht haben, über die französische Eroberung und die Teilung des Landes gemäß des Abkommens von Sykes-Picot. Der Ausbruch des Krieges zwischen den Syrern und den Israeliten, der bis heute zu keiner Lösung gekommen ist. Dann die Unabhängigkeit und die vielen Militärputsche bis hin zum derzeitigen Bürgerkrieg.

Die syrische Gesellschaft, die über Jahre gelitten hat, ist eine Mischung aus Traditionen und Gewohnheiten, eine Mischung aus Moderne und Rückständigkeit. Eine Gesellschaft, in der die Erlaubten (Halal) immer in Konflikt mit den Verbotenen (Haram) stehen. Eine Gesellschaft, in der man eine Frau, die einen Bikini trägt, treffen kann, aber auch eine, die vollständig verhüllt ist.

Eine Diktatur hatten wir, sogar schon seit langem. In einer komplizierten Gesellschaft haben wir gelebt, von den Geheimdienstlern wurden wir ja ständig belästigt. Daran waren wir aber gewöhnt. Und mit der Zeit haben wir gelernt, wie man unter einem diktatorischen Regime leben soll. Wir hatten gute Arbeitsmöglichkeiten sowie sehr gute Universitäten.

Eines hat uns aber gefehlt und zwar die Freiheit. Danach haben die Syrer am 15. März 2011 gerufen und so fing es an. Das Regime versuchte die nach Freiheit strebenden Leute zu unterdrücken, jedoch wurden die Schreie lauter.

Schnell und als Reaktion auf das Verhalten des Regimes hat die Opposition sich bewaffnet und damit den syrischen Konflikt in eine dunkle Zukunft geführt.

Mit der Zeit verschwanden die Stimmen, die einmal nach Freiheit gerufen haben; stattdessen tauchten islamistische Parolen auf. Die Revolution hat sich radikalisiert und Syrien ist das Ziel aller Verbrecher der Welt geworden. Jeder will nun Al-Islam in Syrien verteidigen. Die Gesellschaft hat sich in zwei Parteien getrennt. Die Befürworter des Regimes und die Opposition. Dazwischen sind viele Leute, die nur in Frieden leben wollen, geraten. Gleichzeitig wurde es plötzlich sehr wichtig, nicht nur welche Religion man hat, sondern auch welche Konfession. Wir waren früher alle Syrer, aber jetzt sind wir Sunniten, Schiiten, Christen, Drusen, usw…

Vor acht Jahren fing das Ganze an.  Seit acht Jahren warten, meine verehrten Anwesenden, die Syrer auf jemanden, der etwas sagt, der etwas tut. Und seit acht Jahren, mit jedem Sonnenaufgang enttäuscht uns die ganze Welt auf ein Neues. Die Großmächte, die die fabelhaften Menschenrechtskonventionen formuliert haben, schauen sich die Verachtung der Menschenrechte in Syrien tatenlos an.

Syrien, dieses schöne Land, dessen Kirchen seit dem Aufgang des Christentums die Gläubigen von überall her empfangen haben, die Glocken dieser Kirchen nicht mal ein Tag aufgehört haben zu läuten, ist kriegsmüde.

Das reicht! „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, hat Jesus geschrien. „Warum haben Gott und die ganze Welt uns verlassen?“, schreien wir seit acht Jahren.

Trotz der Schwere der Situation haben sich viele Christen entschieden, in Syrien zu bleiben. Vor der Stärke dieser Leute fühle ich mich schwach und schäme mich sogar.

Diese Leute begegnen Christus jeden Tag. Christus ist das nackte Kind, Christus ist die verhungerte Familie, Christus ist ein Gefangener, Christus ist ein Fremdling, der seine Hand zu uns ausstreckt. Jesus wird seit mehr als acht Jahren jeden Tag in Syrien gekreuzigt. Geduldig und gläubig warten die Christen dort auf die Auferstehung.

Seit dem Aufgang des Christentums waren die Christen hier in Syrien. In diesem Land, in Antiochia wurden die Jünger zuerst Christen genannt. Hier wurde die Kirche gegründet und der Gemeinde zugesagt und „Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwinden.“

Antiochia, die damalige Hauptstadt Syriens, galt damals als Ausgangspunkt eines wandernden Apostels, der die lebendig machende Botschaft von seinem gekreuzigten und auferstandenen Herrn verkündigt hat.

Die Geschichte des Christentums erzählt uns von zahlreichen Heiligen, die sich in Syrien aufgehalten haben. Dort, kurz vor Damaskus, sprach der Herr Saulus zu „Saul, Saul, was verfolgst du mich“. Dort geschah die Bekehrung des Saulus, dessen Briefe ein wichtiger Teil unseres Glaubens sind.

Von dort sind auch die islamischen Truppen nach Damaskus marschiert. Sie sind mit der Botschaft des Friedens dahin gekommen, wie sie verkündigt haben. Friedlich war es leider nicht. Die Syrer hatten zwei Möglichkeiten gehabt, Al-Islam anzunehmen oder das Schwert. Die Christen heutzutage in Syrien sind die Nachkommen von Menschen, die es dem Tod gegenüber verweigert haben, auf ihren Glauben zu verzichten.

Viele kamen an die Macht in Syrien. Von den Umayyaden und den Abbasiden bis zu den brutalen Osmanen und den habgierigen Franzosen. Unbeschreiblich ist es, was die Syrer und insbesondere die Christen erlebt haben. Trotz allem standen die Kreuze immer über den Kirchen, trotz allem wurden die Kinder getauft und die Bibeln verteilt, bis zu jenem Tag, an dem die Syrer angefangen haben, sich selbst zu vernichten, indem sie alle Terroristen der Welt zu sich eingeladen haben und indem Syrien auf die Menschlichkeit verzichtet hat.

Kirchen und kleine Kapellen, in denen der Allgegenwärtige seit der Entstehung des Christentums verehrt wurde, suchen jetzt eine Hand, die deren Glocken läutet. Die Taufbecken sind ausgetrocknet. Die Steine dieser Kirchen schreien an Ostern: „Jesus ist auferstanden“ und keiner erwidert „Er ist wahrhaftig auferstanden“.

Zu der Glaubensfreiheit in Syrien kann leider nichts oder bestenfalls nicht viel Positives gesagt werden. Geschweige denn von andern Menschenrechten.

Die Religion des Landes ist der Islam. Das war vor dem Krieg der Fall und ist es bis heute in der syrischen Verfassung.

Artikel 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, dessen Umsetzung für die Mitgliedsstaaten rechtsverbindlich ist, besagt:

(1) Jedermann hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit…

(2) Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde.

Die syrische Regierung hat diesen Pakt ohne Vorbehalt ratifiziert, der die Glaubensfreiheit beeinträchtigen könnte.

Jedoch Syrien hat den internationalen Pakt über die Rechte des Kindes mit dem Vorbehalt ratifiziert, dass Bestimmungen, die nicht im Einklang mit der Scharia stehen, in Syrian nicht umsetzbar sind. Insbesondere Artikel 14 in Bezug auf das Recht des Kindes auf Religionsfreiheit.

Die Gesetze in Syrien sehen die Möglichkeit vor, dass ein Kind vom Christentum zum Islam wechselt aber nicht umgekehrt. Genauso bei den Erwachsenen – trotz der Ratifizierung des internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte. Syrer dürfen nicht vom Islam zum Christentum konvertieren. Kirchen dürfen natürlich nicht unter den Moslimen missionieren. Ein muslimischer Mann darf eine Christin heiraten und deren Kinder werden als Moslime registriert. Aber ein Christ darf keine Moslime heiraten.

Alle Syrer sind von diesem unmenschlichen Krieg stark betroffen. Die Konfliktursachen im Land sind vor allem politisch, wirtschaftlich und sozial bestimmt. Keine der bekämpften Parteien in Syrien ist gut, seien sie nationale oder internationale Parteien. Jeder, der eine Waffe vorhält, ist ein Verbrecher. Ausnahmen gibt es keine. Die schlimmisten sind jedoch, die Länder die dafür sorgen, dass es in Syrien keinen Waffenmangel gibt.

Zunehmend belastet aber die Politisierung das christlich-muslimische Miteinander. Über die Brutalität des islamischen Staates und der anderen radikalen islamischen Gruppierungen braucht man nichts sagen. Wir trösten uns mit der Rechtfertigung, dass ‚das nicht der wahre Islam ist‘. Das kann ich nach jahrelangem friedlichen Zusammenleben mit den Muslimen auch bestätigen. Aber es wird Zeit, dass sich die Vertreter der islamischen Welt insbesondere Al-Azhar Alsharief in Ägypten und Saudi Arabien von diesen Taten distanzieren und klare Vorgaben zum friedlichen Zusammenleben und Umgang mit Angehörigen anderer Religionen festsetzen.

Christliche Verfolgung seitens des syrischen Regimes kann man nicht feststellen. Christen sind entweder wegen der Verfolgung durch islamische Gruppen oder wegen der Militärpflicht geflüchtet. Das syrische Regime hat sowohl die Christen als auch die Moslime zum Militärdienst aufgefordert. Allerdings hat es gar nicht berücksichtigen wollen, dass viele Christen, abgesehen von den politischen Haltungen, ihrem Glauben zufolge an keinen Auseinandersetzungen teilnehmen wollen. Nach der russischen militärischen Intervention in Syrien, haben sich die Oberhäupter der Kirchen in Syrien ausdrücklich ihre Unterstützung für das Regime geäußert. Die Christen wurden demzufolge ein Teil des Krieges.

Die Propaganda, die das Regime verbreitet, dass es der Schützer der Minderheiten sei, zusammen mit der ausdrücklichen Unterstützung der Kirchen und der russischen Intervention, haben zur tieferen Spaltung der Gesellschaft geführt. Die Sorge um die Zukunft der Christen in Syrien, im Fall des Einsturzes des Assad-Regimes, ist groß und gerechtfertigt. Der Hass zwischen den Moslimen und den Christen nimmt dramatisch zu.

IS wurde militärisch besiegt. Allerdings nicht vernichtet. IS ist eine Idee. Und weder die USA noch die ganze Welt kann eine Idee militärisch besiegen. IS lebt noch und wird irgendwo anders auftauchen. IS kann man nur mit den richtigen Bildungsmaßnahmen und mit Aufklärung bekämpfen und besiegen. Dafür ist sowohl die Mitwirkung der westlichen Staaten als auch die der Vertreter der islamischen Welt gefragt und benötigt.

Die Christen in Syrien glauben, dass Europa die Burg des Christentums ist. Es ist fraglich, ob das immer noch der Fall ist. Sie glauben aber daran und warten auf die Hilfe ihrer Geschwister. Es wird immer gesagt, wir wollen die Christen aus dem Nahen Osten nicht vertreiben. Die Äußerungen stillen aber den Hunger der Kinder nicht. Wenn wir wollen, dass das Christentum im Nahen Osten, im Ursprung des Christentums, erhalten bleibt, müssen wir alles tun, damit die Christen im Nahen Osten ein würdiges Leben führen können.

Im Jahr 2016 und im Auftrag der EKD habe ich die Zerstörung der Sakraltobographie in Syrien dokumentiert. Diese Dokumentation wurde in einem Buch veröffentlicht.

Auf der ersten Seite dieses Buchs habe ich mich entschuldigt. Für jede Kirche, deren Geschichte auf dessen Seiten nicht aufgeschrieben wurde, habe ich mich entschuldigt.

Die Moscheen und Synagogen, die im Inhalt des Buchs nicht enthalten sind, habe ich mehrmals um Entschuldigung gebeten.

Und dann von den vielen Erzählungen der Menschen, die die Geschichte dieser Kirchen haben miterleben müssen; Menschen, die nicht wissen, ob sie den nächsten Tag erleben; Menschen, die unendliches Leid in der eigenen Familie oder anderer Menschen haben miterleben und erleiden müssen. Ich habe nicht geschrieben von den großen Träumen der kleinen Kinder, die im Meer ertrunken sind. Dies hätte ich dokumentieren müssen. Jede Träne eines verletzten Herzens sollte die Möglichkeit haben, ihre Geschichte zu erzählen.

Nur wenig kann man gegen den internationalen Konflikt in Syrien tun. Aber beten können wir. Darum bitte ich Sie, meine Damen und Herren.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!


v.l.n.r. Andreas Goetze, Ulrich Oelschläger, Tarek Bashour

Menschenrechte und Glaubensfreiheit
einige unvollständige Anmerkungen zu einem komplexen Thema
Thesen von Andreas Goetze

I. Die Welt, in der wir leben

Der Anschlag beim Ostergottesdienst auf Sri Lanka hat es leider wieder sichtbar gemacht: in vielen Ländern auf dieser Erde werden Christen bedrängt und verfolgt um ihres Glaubens willen. Aber nicht nur sie, sondern viele Menschen leben in Ländern, in denen religiösen und ethnischen Minderheiten grundlegende Menschenrechte verweigert werden. Sie werden diskriminiert, es gibt keine Meinungs- und Pressefreiheit. Vom Nahen Osten bis nach Asien, von Lateinamerika bis nach Russland und China.

  1. Die Religionsfreiheit – und damit alle Menschenrechte – sind unter Druck[1]. Weltweit nimmt die Gewalt gegen religiöse und ethnische Minderheiten zu. Seinen Glauben öffentlich auszuleben – das wird zunehmend gefährlicher.
  2. Religion selbst ist unter Druck. Zum einen, weil immer weniger Leute wirklich über die theologischen und spirituellen Grundhaltungen der eigene Religion Bescheid wissen, geschweige denn etwas wissen von den religiösen Traditionen anderer. Damit fehlt aber zugleich das kritische Potential, den Missbrauch von Religion zu erkennen und sich dagegen zu positionieren. Zum anderen, weil Religion wieder stärker als politische Größe wahrgenommen wird – und in der Politisierung von Religion liegt eine große Gefahr: die Gefahr des Missbrauchs.
  3. Wenn eine nationale Identität religiös und /oder kulturell definiert wird, wird Religion als Kriterium für nationale Zugehörigkeit definiert. Das schließt Angehörige anderer Religionen gesellschaftlich aus. Überall dort, wo auf diese Weise Macht mit Religion verbunden wird, gibt es ein hohes Trennungsinteresse. Da haben Andersgläubige einen schweren Stand. Wo sich Religion mit Herrschaft und dazu noch mit nationalistischen Tönen verbindet, werden religiöse und ethnische Minderheiten zu „Bürgern 2. Klasse“ mit minderen Rechten und leben mit ständiger Diskriminierung, Ausgrenzung und Benachteiligung[2].

II. Hintergründe für diese Entwicklungen

  1. Die Globalisierung ist nicht allein ein wirtschaftliches und soziales Thema, sondern sie bringt unterschiedliche Religionen und Kulturen in Kontakt. Diese Vielfalt wahrzunehmen kann zum einen bereichernd sein. Zum anderen können gewohnte Zugehörigkeiten in Frage gestellt werden. Das führt zu Verunsicherungen, Entfremdungserfahrungen und zu Auseinandersetzungen.
  2. Vielfache dialogwidrige und dialogfeindliche Kräfte sind wirksam: Im Vordergrund steht dabei eine Tendenz, ein homogenes national-religiöses oder national-kulturelles Erbe zu behaupten und alles dafür zu tun, diese Vorstellung mit repressiven Maßnahmen durchzusetzen: „Es wird zwischen der vermeintlich traditionellen, im Land seit Langem ansässigen Religion und ‚fremden‘, später aus anderen Regionen hinzugekommenen Religionen unterschieden“[3].
  3. Die Trennlinie verläuft dabei nicht zwischen den Religionen, Weltanschauungen und Kulturen, sondern quer durch sie hindurch. Es geht um Grundhaltungen, die im Widerstreit liegen: einer Haltung, die sich für die offene, liberale Gesellschaft einsetzt gegenüber einer Haltung, die abschottende, identitäre Bestrebungen unterstützt. Es geht letztlich um die universelle Gültigkeit der Menschenrechte oder im Gegenteil um ihre Einschränkungen.III. Die Bedeutung der Menschenrechte
  4. Die Menschenrechte[4] sind im Kern Freiheitsrechte: Sie sind unteilbar und miteinander verwoben, d. h. eng miteinander verbunden: Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit, Versammlungsfreiheit sind fundamentale Menschenrechte. Auch die sozialen Rechte sind Freiheitsrechte, weil sie Menschen innerhalb sozialer Beziehungen schützen und stärken.
  5. Insbesondere an vier Punkten entzündet sich immer wieder die Auseinandersetzung: Wenn es um die Gleichheit von Mann und Frau geht, um die Gleichbehandlung vor dem Gesetz, um die Religions- und Gewissensfreiheit und um Körperstrafen und Folter (steht dem Recht auf körperliche Unversehrtheit entgegen).
  6. Für die gesamte Weltgemeinschaft ist es essentiell, sich über die fundamentalen Menschenrechte zu verständigen: „Verständigung in Menschenrechtsfragen über kulturelle Grenzen hinweg ist angesichts einer Welt, die immer vernetzter wird, letztlich unverzichtbar. Kulturen sind keine statischen Größen; sie wandeln sich ständig, und sie beeinflussen sich gegenseitig. Der interkulturelle Dialog zu Menschenrechtsfragen ist deshalb unumgänglich“[5].

IV. Menschenrecht auf Religionsfreiheit – Art. 18

  1. Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit bedeutet, sich zu einer Religion (immer mitgemeint: Weltanschauung) bekennen, sich von ihr abwenden und eine atheistische Position einzunehmen oder auch in eine Religion wechseln zu können. Dabei stellt die Religionsfreiheit nicht religiöse Gefühle, religiöse Identitäten oder gar Religionen als solche unter Schutz. „Sie ist nicht eine Art Ehrschutz der Religionen, sondern vielmehr ein Freiheitsrecht der Menschen, und dies in einem umfassenden Sinne, so dass sie unter anderem auch die Freiheit zur Religionskritik beinhaltet“[6].
  2. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit ist unveräußerlich und universell gültig[7]. Diese Religionsfreiheit (und mitgemeint ist immer: der Weltanschauungsfreiheit) ist der Lackmustest der Menschenrechte, ein wichtiger Baustein zur Früherkennung einer Krisensituation. Denn dort, wo das Menschenrecht auf Religionsfreiheit eingeschränkt oder nicht gewährt wird, werden auch die anderen elementaren Menschenrechte wie Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt und nicht gewährt. Nur dort, wo jeder Einzelne seinen Glauben frei leben kann, ist auch die Gesellschaft frei, kann sich gesellschaftlich ein sozialer Frieden entwickeln.
  3. Dabei bedeutet das Vorhandensein rechtsstaatlicher Bedingungen nicht, dass die Menschenrechte eingehalten werden. Indonesien ist dafür ein Beispiel[8]: gleichwohl es eine demokratische Verfassung hat, die Religionsfreiheit garantiert, wird dieses Recht durch staatliche Gesetzgebung (Blasphemiegesetz) und nicht-staatliche radikale Akteure unterlaufen.
  4. Eine wichtige Erinnerung: Die Konflikte dieser Welt sind mehrheitlich keine religiösen Konflikte, sondern haben politische, wirtschaftliche und soziale Ursachen.
    In all den Weltkonflikten wirken Religionen und Weltanschauungen und ihre Repräsentanten mehrheitlich nicht als Brandursache, sondern als Brandbeschleuniger. Die Verbindung von Herrschaft und Weltanschauung jeder Art war und ist das Problem. Dann werden menschliche Allmachts-Phantasien legitimiert mit „einem höheren Zweck“, „der Rettung der Menschheit“, „dem Willen Gottes“.

V. Bedrängte oder verfolgte Christen?

  1. Christen werden weltweit bedrängt und verfolgt[9]. Das ist weder zu verharmlosen noch zu beschönigen, vielmehr Anlass zur Sorge, zu wachsamer Aufmerksamkeit, zur Solidarität und Fürbitte.
  2. Wo Christen verfolgt werden, sind in aller Regel auch viele andere betroffen. Und die Diskriminierung zeigt dabei von Land zu Land sehr verschiedene Gesichter. Eine typische Situation der Bedrängung und Verfolgung gegen Christen, die sich grundsätzlich von derjenigen gegenüber anderen Religionen unterscheiden ließe, lässt sich nicht eindeutig feststellen.
  3. In vielen Fällen ist es notwendig zu differenzieren. Nicht alles, was Christen in schwierigen Situationen zustößt, ist religiös motiviert. Christen können auch aus machtpolitischen, ethnischen, tribalen, territorialen, ressourcenbedingten (Konflikt um Wasser, Öl, Gold, Drogen …) oder kriminellen Gründen bedrängt oder gar getötet werden.
  4. Gleichwohl ist zu beobachten: Staatliche und gesellschaftliche Unterdrückungen und die länderübergreifenden islamistischen Terrornetze bilden besonders im Nahen und Mittleren Osten, in Nordafrika sowie in Nigeria und Somalia eine Gefahr für Christen, Bahai und Yesiden. Dabei werden Christen nicht nur als Anhänger einer Religion angegriffen, sondern sie gelten zugleich als Symbol für den verhassten westlichen Lebensstil[10].
  5. Es ist wichtig, die vielfältigen Formen von Diskriminierung, Ausgrenzung, Bedrängnis und Verfolgung zu analysieren, um eine Situation vor Ort in einem Land besser verstehen und beurteilen zu können. Unterschiedslos alles unter dem Label „Verfolgung“ zu fassen, ist nicht sinnvoll. Denn es ist ein Unterschied, ob Christen der Bau von Kirchen erschwert wird oder ob sie systematisch vertrieben werden und um ihr Leben fürchten müssen.
  6. Christen und Muslime gehören weltweit zu dem am häufigsten bedrängten und verfolgten Personenkreis. Das verwundert nicht, weil sie auch mit rund 2,2 Milliarden (Christen) und rund 1,6 Milliarden (Muslime) Menschen die höchsten Bevölkerungsanteile aller Religionsgemeinschaften bilden. Kleinere Religionsgemeinschaften wie die Bahai können gar nicht auf solche Zahlen kommen, weil sie schlicht weniger Anhänger haben. Werden sie deswegen nicht so stark verfolgt, weil sie weniger sind? Möglicherweise ist uns aufgrund ihrer kleinen Zahl nicht so bewusst, dass sie von Diskriminierung und Verfolgung bedroht sind.
  7. Gerade im westlichen Kontext wird medial oft hervorgehoben, dass die Christen die am „meisten verfolgte Glaubensgruppe“ seien. Auf diese Weise entsteht durch ein solches Ranking unter den verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten ein Vergleich, wer denn „am meisten“ und „am schlimmsten“ verfolgt sei und es entsteht unter der Hand ein „Opfer-Ranking“, was insbesondere den Radikalen mit ihren dualistischen Weltbilder[11]n von Nutzen ist. Der einseitige Focus auf die wie immer auch definierte „Christenverfolgung“ fördert zudem ein Verständnis, als ginge es bei den Konflikten in der Welt vor allem um religiöse Fragen und weniger um politische, wirtschaftliche und soziale[12]. Genau dieses Ziel haben fundamentalistische Gruppierungen, indem sie die in den Ländern vorhandenen Konflikte in einen Religionskrieg zu verwandeln suchen.

    VI. Handlungsoptionen und Perspektiven
  1. Als Kirchen in der weltweiten Ökumene vertreten wir offensiv das Recht auf Religionsfreiheit als ein grundlegendes und herausragendes Menschenrecht. Wir verteidigen das Recht, vom eigenen Glauben auch öffentlich zu erzählen und für den eigenen Glauben zwangsfrei zu werben.
  2. Wir bleiben aufmerksam und verschließen nicht die Augen vor der Verfolgung unserer Glaubensgeschwister in anderen Ländern. Wir erheben öffentlich und nachdrücklich und vor allem ökumenisch gemeinsam die Stimme und setzen uns für die bedrängten und verfolgten Christen ein. Dieses kirchliche Engagement ist Ausdruck der geistlichen Überzeugung, dass wir nach 1. Kor. 12 nur alle gemeinsam der Leib Christi sind: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit“. Mit unserer Anteilnahme verbinden wir geistliches und menschenrechtliches Engagement.
  3. Wir nehmen bei all dem bewusst nicht nur exklusiv die Christen in den Blick, sondern engagieren uns für alle bedrohten Minderheiten. Denn sonst verstärken wir die Wahrnehmung, als handele es sich bei dem Konflikt vor allem um einen religiösen Konflikt und unterstützen auf diese Weise die Sicht radikaler national-religiöser Gruppierungen.
  4. Wir setzen uns mit allem Nachdruck und gleichermaßen engagiert für die Religionsfreiheit für Angehörige anderer Religionen und Weltanschauungen ein – gegenüber Vertretern der eigenen wie auch fremder Regierungen. Denn Religionsfreiheit ist wie alle universellen Menschenrechte unteilbar und darf auch nicht kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden.
  5. Wir arbeiten dabei mit Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch zusammen und stehen in ständigem Kontakt mit unseren Partnern vor Ort. Wir wissen: Nicht jede Empörung bei uns ist für die Betroffenen hilfreich.
  6. Wir achten auf die Wahl unserer Begriffe und unterscheiden Situationen, in denen Menschen bedrängt, diskriminiert werden aufgrund ihrer Ethnie, ihrer Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung, ihres Geschlechtes oder ihrer Religion und Weltanschauung. Vor allem: Der Begriff „Christenverfolgung“‘ darf keine ausgrenzende Wirkung entfalten und nicht missbraucht werden, um in Deutschland Identitätsdebatten anzustacheln.
  7. Wir engagieren uns verstärkt im interreligiösen Dialog, weil uns um des weltweiten sozialen und gesellschaftlichen Friedens willen daran liegt, mit all denen ins Gespräch zu kommen und zusammenzuarbeiten, die sich gemeinsam gegen eine politische und nationale Instrumentalisierung ihrer Religion einsetzen.
  8. Wir beten für und mit bedrängten Christen und nehmen alle diskriminierten und verfolgten Menschen in unser Gebet auf. Der Ökumenische Fürbittkalender[13] kann uns dabei anleiten, jede Woche ein anderes Land und seine Menschen in den Blick zu nehmen.

Der Schutz bedrängter und verfolgter Christen und aller ethnischen und religiösen Minderheiten „gelingt am besten mit einem gut informierten Engagement für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit, das alle Menschen ungeachtet ihrer Herkunft und Religionszugehörigkeit umfasst[14].

 

Nachbemerkung: Religiöse Haltungen haben Potential zum Frieden und zur Gewalt

Mit Religion lässt sich Gewalt rechtfertigen, mit Religion lässt sich für den Frieden werben. Das gilt auch für jede andere Art der Weltanschauung. Es kommt entscheidend auf den Umgang mit den eigenen als heilig verstandenen Quellen an.

Fundamentalistische Tendenzen liegen nicht in den heiligen Texten selbst. Nicht der Text als Text ist das Problem, sondern die Haltung, mit dem diese Texte gelesen und verstanden werden. In diesem Sinn sind radikale Lesarten keine Lehre, sondern eine Art und Weise, eine Lehre, eine Tradition zu interpretieren und zu leben. Es ist eine Geistes- und Lebenshaltung[15].: Hier wird der Buchstabe von Lehre und Tradition übernommen, ohne sich um ihren Geist und ihren Sitz im fortwährenden Wandel der Geschichte zu kümmern.

Religionen und Weltanschauungen haben die Neigung, die anderen, die anders glauben und denken, maximal als „Gäste“ zu würdigen. Wenn Religion in den Strudel der Gewalt hineingerät, dann schrumpft sie oft zu einer Art Stammesreligion, besonders in zerfallenden Gesellschaften. Das gilt für Nordirland wie für die Zentralafrikanische Republik oder in Syrien. In der immer schon pluralen Welt haben die Mitglieder aller Religionen und Weltanschauungen die theologische und spirituelle Aufgabe, die in ihren jeweiligen Traditionen vorhandenen Friedenspotentiale herauszuarbeiten und durch ihr eigenes Lebenszeugnis zu stärken. Das hat viel mit religiöser Bildung und der eigenen spirituellen Haltung zu tun.

Entscheidend kommt es dabei auf die spirituelle (innere) Haltung an, mit der die eigene – und dann auch die jeweils unbekannten – Schriften und Traditionen anderer, die anders glauben, wahrgenommen werden. In jeder Tradition lässt sich das ihr eigene Friedenspotential entdecken, zuvörderst von den Gläubigen der Religionsgemeinschaft selbst, dann aber auch wertschätzend durch die anderen, ob sie sich nun als religiös verstehen oder nicht. Es ist wichtig, sich immer wieder klar zu machen, dass jede Religionsgemeinschaft eine enorme Vielfalt aufweist. Nur so wird verhindert, eine Religion unter Generalverdacht zu stellen.

Kontakt:
Dr. (phil)* Andreas Goetze, Landespfarrer für den Interreligiösen Dialog in der Evang. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). E-Mail:
a.goetze(a)bmw.ekob.de
(*Institut für Orientalistik/ Nationale Akademie der Wissenschaften der Republik Armenien)

 

[1] Vgl. dazu: ANNUAL REPORTOF THEU.S. COMMISSION ON INTERNATIONAL RELIGIOUS FREEDOM, April 2019, siehe unter: https://www.uscirf.gov/sites/default/files/2019USCIRFAnnualReport.pdf.

[2] Vgl. dazu: Amnesty international (hg.), Human Rights in the Middle East an North Africa. Review of 2018, siehe unter: https://www.amnesty.org/en/documents/MDE01/9433/2019/en.

[3] Ökumenischer Bericht zur Religionsfreiheit 2017, S. 21.

[4] Alle 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 siehe unter: https://www.menschenrechtserklaerung.de/die-allgemeine-erklaerung-der-menschenrechte-3157.

[5] Amnesty international (Hg.), Presseinformation zu 70 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Berlin 2018, S. 16.

[6] Religionsfreiheit als weltweites Mandat. Ein Gespräch mit Heiner Bielefeldt, UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, in: Zeitschrift für Menschenrechte 1/2011, Schwalbach 2011, 144-154, 148.

[7] Ökumenische Bericht zur Religionsfreiheit 2017, S. 6.

[8] Vgl. dazu: Indonesien. Von Islam und Demokratie, welt-sichten. Magazin für globale Entwicklung und ökumenische Zusammenarbeit, Heft 4/2014, darin auch das Interview mit dem in Indonesien lebenden und lehrenden katholischen Theologen Franz Magnis-Suseno: Religionsfreiheit mit Spannungen, S. 18-21.

[9] Dabei ist auch zu überlegen, ob sich der Begriff „Diskriminierung“ in der gesellschaftspolitischen Debatte nicht verständlich ist als der theologisch aufgeladene Begriff „Bedrängnis“.

[10] Der Name der islamistischen Terrorgruppe „Boko Haram“, die vor allem in Nord-Nigeria, im Tschad und in Kamerun ihr Unwesen treibt, bedeutet übersetzt ungefähr: „Westliche Bildung ist Sünde“.

[11] Siehe dazu Punkt II. „Wir sind die eigentlichen Opfer – die anderen stehen uns alle feindlich gegenüber“.

[12] Siehe dazu Punkt IV, These 4.

[13] Der Ökumenische Fürbittkalender wird jährlich vom Ökumenischen Rat herausgegeben. Er lädt dazu ein, im Laufe des Jahres im Gebet alle Teile der Welt aufzusuchen und für die Menschen dort zu beten, die in unterschiedlichen Verhältnissen leben und unterschiedliche Probleme haben. Der aktuelle Kalender findet sich unter: https://www.oikoumene.org/de/resources/prayer-cycle.

[14] Missio (Hg.), Verfolgte Christen heute – Hintergründe, siehe unter: https://www.missio-hilft.de/mitmachen/hilfe-fuer-verfolgte-christen/wissenswertes.

[15] Andreas Goetze, Um Gottes Willen! – Wenn der Geist sich radikalisiert. Fundamentalismus als Phänomen der Moderne, in: Um Gottes Willen. Themenheft des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Bad Nauheim 2016, S. 19-21.

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